Willkommen im Reich des Vergessenen

Die Sammlung

Ein Märchen von Stefanie van de Brock

Es war einmal eine Villa in Italien. Doch sie war nicht irgendeine Villa – sie war die edelste, vollkommenste und schönste, die man sich nur vorstellen konnte. So schön, dass jeder, der versuchte, sie sich vorzustellen, daran scheiterte.

Verwinkelte Gassen, geschmückt mit steinernen Bögen, führten zu ihren Eingängen. Kein Winkel dieses Ortes war trostlos. Selbst die Natur schien Freundschaft mit der Fassade geschlossen zu haben – zarte, moosartige Gewächse überzogen das Mauerwerk, als würden auf den Wänden unbekannte Landkarten entstehen. Zwischen den Bögen hingen kleine eiserne Laternen, und jeder Weg war von feinen Kieselsteinen gesäumt.

Was sich hinter den Türen befand, wusste niemand. Denn die Villa war schon vor langer Zeit verlassen worden.

Eines Nachts, als der Himmel klar und wolkenlos war, geschah etwas, womit niemand je gerechnet hätte. Eine Sternschnuppe durchbrach die Stille der Nacht. Doch sie fiel nicht einfach herab wie gewöhnliche Sternschnuppen – nein, sie glitt langsam und lautlos über den Horizont, als wolle sie den Himmel selbst streicheln. Ihre Helligkeit war so überwältigend, dass für einen Moment die Dunkelheit wich und die Welt in goldenes Licht getaucht wurde, als wäre es mitten am Tag.

Die Tiere verstummten, als hätten sie die Magie gespürt. Dort, wo die Sternschnuppe landete, erhob sich ein großer Berg, umgeben von hohen Bäumen, die in einem Kreis standen. Ihre Stämme leuchteten weiß, fast silbern, und zwischen ihnen wuchsen dunkelblaue Büsche. Die Blätter schimmerten in einem bläulichen Metallglanz.

Im Krater des metallischen Felsbrockens erschien ein kleines Lichtwesen. Es war aus purem Licht geformt, durchscheinend und schimmernd. Vorsichtig blickte es sich um – dann folgte es einem leuchtenden Pfad, der zur Villa führte.

In der Villa herrschte tiefe, fast unheimliche Stille. Der Mond warf silberne Schatten durch die verstaubten Fenster, als wolle er neugierig hineinschauen. Hinter einer schweren Holztür, verborgen in den hintersten Winkeln, lag eine alte Bibliothek – seit Jahrhunderten unberührt. Die Regale reichten bis zur Decke, gefüllt mit Büchern, deren Ledereinbände längst von der Zeit gezeichnet waren. Ein feiner Duft von Pergament und Geheimnissen lag in der Luft.

Doch in dieser Nacht war etwas anders. Zwischen den Schatten der Regale begann ein sanftes Licht zu flackern – zuerst kaum wahrnehmbar, dann stärker werdend. Es war kein gewöhnliches Licht. Es schien zu atmen, zu pulsieren, als hätte es ein eigenes Bewusstsein.

Das Lichtwesen trat hervor. Seine Augen funkelten schwarz wie das Universum selbst, und während es sich bewegte, wirbelte feiner Sternenstaub durch die Luft. Lautlos glitt es an den Regalen entlang, als suche es etwas. Schließlich blieb es vor einem der ältesten Bücher stehen. Der Einband war mit fremdartigen Symbolen verziert, die im Licht des Wesens zu glühen begannen.

Behutsam hob es eine Hand – oder etwas, das einer Hand ähnelte – und berührte das Buch. Ein leises Summen erfüllte die Bibliothek. Die Wände begannen zu flirren, als ob die Realität selbst ins Wanken geriet. Bücher flüsterten, Seiten raschelten, und draußen leuchteten die Sterne heller. Das Wesen hatte etwas erweckt – etwas, das lange vergessen war.

Das Buch öffnete sich von selbst. Ein goldener Nebel stieg aus den Seiten auf, formte leuchtende Schriftzeichen, die durch die Luft tanzten und eine Botschaft offenbarten.

Das Lichtwesen war fasziniert von den lebendigen Geschichten, die in den Büchern erwachten. Doch bald bemerkte es etwas Merkwürdiges: Einige Seiten blieben leer. Kein Licht, keine Worte, kein Leben. Es spürte, dass hier etwas fehlte.

Neugierig nahm es ein besonders altes Buch mit goldenem Einband. Kaum berührte es die erste Seite, flackerte ein sanftes Leuchten auf, und eine Stimme flüsterte durch den Raum:

„Die Sammlung ist unvollständig. Finde die verlorenen Geschichten, bevor sie für immer verschwinden.“

Da verstand das Wesen: Die Villa war nicht nur ein Ort der Erinnerungen, sondern ein Zufluchtsort für Geschichten, die vergessen wurden. Wenn niemand sie mehr erzählte, verblassten sie – bis nichts von ihnen blieb.

Entschlossen machte sich das Lichtwesen auf den Weg in die Welt. Es wollte die verlorenen Geschichten finden, sie bewahren und den Menschen schenken, die bereit waren, ihnen zuzuhören.

Mit jeder Geschichte, die es fand, kehrte es in die Villa zurück, öffnete eines der leeren Bücher – und ein sanftes Leuchten erfüllte die Seiten. So wurde das Lichtwesen zum Hüter der Sammlung. Es wanderte durch Städte und Dörfer, lauschte den Menschen und sammelte ihre Erzählungen.

Und wer sich eines Tages in die alte Villa wagte, konnte vielleicht eines der leuchtenden Bücher aufschlagen – und eine Geschichte finden, die schon fast vergessen war.

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