Ein Märchen von Stefanie van de Brock.
Tief im Herzen einer alten Stadt, verborgen in einer verstaubten Villa, stand ein Klavier, das längst verstummt war. Seine Tasten, einst glänzend schwarz und weiß, waren abgenutzt, sein Holz rissig und matt. Besucher, die den Raum betraten, warfen ihm flüchtige Blicke zu – doch keiner wagte es, seine Stille zu brechen.
Eines Tages betrat ein Junge namens Sam die Villa. Arm an Besitz, doch reich an Liebe zur Musik, wurde er von dem Instrument wie magisch angezogen. Als er seine Hand ausstreckte, um eine Taste anzuschlagen, erklang eine Stimme, rau und alt wie die Zeit selbst:
„Ich verberge eine uralte Melodie. Doch sei gewarnt – wer die richtigen Tasten spielt, öffnet ein Tor zur Unterwelt.“
Sam lachte leise. Eine Legende, nichts weiter. Ohne zu zögern ließ er seine Finger über die Tasten gleiten. Ein tiefer, fremdartiger Klang erfüllte den Raum – dunkel und voller Geheimnisse. Plötzlich begannen die Schatten in den Ecken zu tanzen, ein eisiger Wind fuhr durch den Raum, und der Boden unter ihm erzitterte.
Vor Sams Augen öffnete sich ein Spalt – ein schimmernder Abgrund, aus dem ein leises Flüstern aufstieg. Eine Gestalt trat aus der Dunkelheit hervor: die Wächterin der Unterwelt. Ihre Augen funkelten, und Flammen spiegelten sich in ihrer Iris. Ihre Stimme war sanft, doch eindringlich.
„Du hast die Melodie der Vergessenen gespielt“, sagte sie. „Nun musst du wählen: Kehre um – oder folge der Musik in die Tiefen der Unterwelt.“
Sams Herz pochte heftig. Angst und Neugier rangen in ihm. Doch tief in seiner Seele spürte er: Dies war ein Ruf, den er nicht ignorieren konnte. Also spielte er weiter. Mit jeder Note zog ihn die Musik tiefer in den Spalt, bis die Welt, die er kannte, hinter ihm verblasste.
Doch die Unterwelt war nicht das düstere Reich, das er erwartet hatte. Sie war erfüllt von Melodien, die in der Luft schwebten, von Stimmen, die uralte Lieder sangen. Hier lebten die vergessenen Seelen der Musiker, deren Kunst in der Welt der Lebenden längst verstummt war.
„Warum bin ich hier?“, fragte Sam die Wächterin.
„Weil du das letzte Stück der Klänge der Unterwelt spielen musst“, antwortete sie. „Nur ein Mensch mit einem reinen Herzen kann es vollenden.“
Sam schloss die Augen. Er lauschte den Klängen um ihn herum – den Stimmen der Vergangenheit, den verlorenen Harmonien – und ließ seine Finger sprechen. Die Melodie, die er formte, war wie ein Fluss, der sich seinen Weg bahnte: voller Trauer und Schönheit, voller Leben und Tod zugleich.
Als die letzte Note verklang, begann das Klavier zu leuchten. Die Seelen wurden leichter, ihre Stimmen wandelten sich von Sehnsucht in Zufriedenheit. Die Wächterin trat näher und nickte ihm zu.
„Du hast die Verbindung wiederhergestellt“, sagte sie. „Die Musik wird nie mehr verloren gehen.“
Sam spürte, wie ihn die Melodie zurücktrug. Als er die Augen öffnete, saß er wieder in der Villa. Doch das Klavier war nicht mehr alt und verstaubt – es glänzte wie neu, als hätte es gerade erst seinen ersten Ton gespielt.
Von diesem Tag an spielte Sam Melodien, die niemand je zuvor gehört hatte. Und wenn jemand genau hinhörte, konnte er darin das Echo einer Welt vernehmen, die jenseits der unseren lag.
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